Schweizer Magazin für psychische Gesundheit
NOTFALL 143

Die SECO-Stressstudie: 20 Jahre Arbeitsstress in der Schweiz

Von 4,2 auf über 10 Milliarden Franken Kosten. Was die offiziellen Schweizer Stressstudien zeigen, warum klassische Ansätze scheitern und welche evidenzbasierten Wege es gibt.

📊 Datenanalyse ⏱ 8 Min. Lesezeit 📅 Dezember 2025

Im Jahr 2000 veröffentlichte das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) eine Studie zu den Kosten des Stresses, die erstmals die volkswirtschaftlichen Kosten von Stress in der Schweiz bezifferte: 4,2 Milliarden Franken jährlich. Diese Zahl war ein Weckruf. Doch was ist seither passiert? Die Bilanz nach zwei Jahrzehnten ist ernüchternd, die Entwicklung lehrreich und die Frage nach wirksamen Lösungsansätzen drängender denn je.

Die Ausgangslage: Was die SECO-Studie 2000 enthüllte

Die erste umfassende Schweizer Stressstudie des SECO untersuchte systematisch die Belastungssituation von Erwerbstätigen und deren wirtschaftliche Folgen. Die Ergebnisse waren alarmierend: 26,6 Prozent der Befragten gaben an, sich häufig oder sehr häufig gestresst zu fühlen. Die Kosten verteilten sich auf drei Bereiche:

  • Medizinische Kosten: 1,4 Milliarden Franken für die Behandlung stressbedingter Erkrankungen
  • Selbstmedikation: 348 Millionen Franken für Medikamente und Substanzen gegen Stress
  • Produktivitätsverluste: 2,4 Milliarden Franken durch Fehlzeiten und verminderte Leistungsfähigkeit

Quelle: SECO, Die Kosten des Stresses in der Schweiz, 2000

Diese 4,2 Milliarden entsprachen damals rund 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Es war das erste Mal, dass eine offizielle Schweizer Behörde den volkswirtschaftlichen Schaden durch psychische Belastungen am Arbeitsplatz quantifizierte.

Die Eskalation: Von 4 auf 10 Milliarden

Zehn Jahre später, im Jahr 2010, beauftragte das SECO die Fachhochschule Nordwestschweiz mit einer Folgestudie zu Stress bei Schweizer Erwerbstätigen. Das Forschungsteam unter Leitung von Simone Grebner befragte über 1'000 Erwerbstätige in allen drei Landesteilen. Die Ergebnisse zeigten eine deutliche Verschlechterung.

+30% mehr chronisch Gestresste innerhalb von 10 Jahren

Der Anteil der Personen, die häufig oder sehr häufig Stress empfinden, stieg von 26,6 auf 34,4 Prozent. Basierend auf diesen Daten schätzten Experten die volkswirtschaftlichen Kosten nun auf rund 10 Milliarden Franken jährlich. In nur einer Dekade hatten sich die Kosten mehr als verdoppelt.

Jahr Chronisch Gestresste Geschätzte Kosten Anteil BIP
2000 26,6% 4,2 Mrd. CHF 1,2%
2010 34,4% ~10 Mrd. CHF ~1,7%
2022 28,2% (kritisch) 6,5 Mrd. CHF* ~0,9%

*Ökonomisches Potenzial laut Job-Stress-Index 2022 (Gesundheitsförderung Schweiz)

Regionale Unterschiede

Besonders auffällig war die regionale Verteilung: In der Westschweiz gaben 50 Prozent der Befragten an, sich häufig oder sehr häufig gestresst zu fühlen, verglichen mit jeweils 29 Prozent in der Deutschschweiz und im Tessin. Auch die Altersverteilung zeigte klare Muster: Jüngere Erwerbstätige (15-34 Jahre) berichteten überdurchschnittlich oft von chronischem Stress, während erst die Generation 55+ häufiger angab, nie gestresst zu sein.

Der Job-Stress-Index: Kontinuierliches Monitoring seit 2014

Die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz etablierte 2014 in Zusammenarbeit mit der Universität Bern und der ZHAW ein kontinuierliches Monitoring-System: den Job-Stress-Index. Dieser erfasst periodisch das Verhältnis von Belastungen und Ressourcen am Arbeitsplatz.

Zentrale Erkenntnis 2022: Erstmals überschreitet der Anteil emotional erschöpfter Erwerbstätiger die 30-Prozent-Marke. Nahezu jeder dritte Arbeitnehmende in der Schweiz zeigt Anzeichen von Erschöpfung, die über normalen Arbeitsstress hinausgehen.

Die Daten von 2022 zeigen, dass 28,2 Prozent der Erwerbstätigen einen Job-Stress-Index im kritischen Bereich aufweisen. Diese Personen berichten über deutlich mehr Belastungen als Ressourcen. Das ökonomische Potenzial, das durch ein ausgeglichenes Verhältnis von Belastungen und Ressourcen ausgeschöpft werden könnte, beziffert die Stiftung auf 6,5 Milliarden Franken. Davon entfallen 1,5 Milliarden auf die Reduktion von Fehlzeiten (Absentismus) und 5 Milliarden auf die Reduktion von Präsentismus, also die verminderte Leistungsfähigkeit trotz Anwesenheit.

Was die Zahlen nicht zeigen: Die individuelle Dimension

Hinter den Milliardensummen stehen über eine Million Schweizer Erwerbstätige, die von arbeitsbezogenen Gesundheitsproblemen betroffen sind. Die volkswirtschaftliche Perspektive erfasst dabei nur einen Teil der Realität. Was in den Statistiken nicht erscheint:

  • Schlaflose Nächte vor dem Montag
  • Beziehungen, die unter chronischer Erschöpfung leiden
  • Hobbys und soziale Kontakte, die aufgegeben werden
  • Körperliche Symptome, die als «normal» akzeptiert werden
  • Die schleichende Erosion der Lebensqualität

Die SECO-Studie 2010 erfasste auch den Substanzkonsum als Reaktion auf Arbeitsbelastungen. Die Ergebnisse deuteten auf eine besorgniserregende Entwicklung hin: Medikamente werden nicht nur zur Behandlung stressbedingter Beschwerden eingesetzt, sondern teilweise auch zur Leistungssteigerung, ein Phänomen, das die Forschenden als «Doping am Arbeitsplatz» bezeichneten.

Warum klassische Ansätze nicht ausreichen

Trotz gesteigertem Bewusstsein, betrieblichem Gesundheitsmanagement und zahlreichen Präventionsprogrammen zeigen die Zahlen keine nachhaltige Trendwende. Die Gründe dafür sind vielschichtig:

1. Symptombekämpfung statt Ursachenarbeit

Viele Interventionen setzen an den Symptomen an: Entspannungskurse, Zeitmanagement-Seminare, Yoga in der Mittagspause. Diese Massnahmen können kurzfristig entlasten, adressieren aber selten die tieferliegenden Muster, die zu chronischem Stress führen.

2. Strukturelle Faktoren bleiben unverändert

Die Verdichtung der Arbeit, ständige Erreichbarkeit und zunehmende Komplexität der Aufgaben werden durch individuelle Stressbewältigung nicht aufgelöst. Solange sich an den Arbeitsbedingungen nichts Grundlegendes ändert, bleibt die Belastung bestehen.

3. Das Stigma psychischer Belastung

Obwohl sich gesellschaftlich einiges bewegt hat, bleibt es für viele Menschen schwierig, offen über psychische Belastungen zu sprechen. Stress wird häufig als persönliches Versagen interpretiert, nicht als Ergebnis systemischer Überforderung.

Was im Gehirn passiert: Die neurobiologische Perspektive

Die moderne Neurowissenschaft hat unser Verständnis von Stress grundlegend erweitert. Chronischer Stress ist kein rein psychisches Phänomen, sondern verändert messbar die Struktur und Funktion des Gehirns.

Die sogenannte HPA-Achse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse) reguliert die Stressreaktion des Körpers. Bei akutem Stress wird Cortisol ausgeschüttet, das den Körper in Alarmbereitschaft versetzt. Nach der Bedrohung normalisiert sich das System. Bei chronischem Stress jedoch bleibt die HPA-Achse dauerhaft aktiviert. Die Folgen:

  • Hippocampus: Die für Gedächtnis und Lernen zentrale Hirnregion schrumpft bei anhaltend hohen Cortisolspiegeln
  • Präfrontaler Kortex: Die Fähigkeit zu rationaler Entscheidungsfindung und Impulskontrolle wird beeinträchtigt
  • Amygdala: Das Angstzentrum wird sensibilisiert und reagiert verstärkt auf potenzielle Bedrohungen

Die gute Nachricht: Diese Veränderungen sind nicht irreversibel. Das Konzept der Neuroplastizität zeigt, dass das Gehirn sich auch im Erwachsenenalter reorganisieren kann, vorausgesetzt, die chronische Belastung wird unterbrochen und neue, gesündere Muster werden etabliert.

Evidenzbasierte Ansätze jenseits der Medikation

Die Suche nach wirksamen Interventionen hat in den letzten Jahren verschiedene Ansätze hervorgebracht, deren Wirksamkeit wissenschaftlich untersucht wurde.

Achtsamkeitsbasierte Verfahren

Programme wie MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) zeigen in Meta-Analysen moderate bis gute Effekte auf Stresserleben und psychisches Wohlbefinden. Die Wirkung beruht auf der Schulung der Aufmerksamkeitssteuerung und einer veränderten Beziehung zu belastenden Gedanken.

Klinische Hypnose und Hypnosetherapie

Die Wirksamkeit klinischer Hypnose ist in über 200 empirischen Studien für zahlreiche Anwendungsbereiche nachgewiesen. Eine Meta-Analyse von Tefikow und Kollegen (2013), die 34 Studien einbezog, errechnete eine Effektstärke von 0.53 für die Reduktion psychischer Belastung, was einem mittleren Effekt entspricht.

Besonders relevant: Forschende der Universität Zürich konnten zeigen, dass unter Hypnose tatsächlich messbare Veränderungen im Gehirn stattfinden. Die hypnotische Wirkung ist also keine Einbildung, sondern ein neurobiologisch nachweisbarer Zustand veränderter Informationsverarbeitung. Anders als bei oberflächlichen Entspannungstechniken ermöglicht Hypnosetherapie zur Stressbehandlung den Zugang zu unbewussten Mustern, die chronischen Stress aufrechterhalten.

Körperorientierte Verfahren

Progressive Muskelentspannung, Atemtechniken und moderate Bewegung zeigen ebenfalls positive Effekte. Diese Ansätze nutzen die bidirektionale Verbindung zwischen Körper und Psyche: Durch gezielte körperliche Entspannung wird auch das Nervensystem reguliert.

Was hat sich seit 2000 verändert, und was nicht

Die SECO-Studien dokumentieren eine paradoxe Entwicklung: Während das Bewusstsein für Stress am Arbeitsplatz deutlich gestiegen ist, hat die tatsächliche Belastung nicht abgenommen, im Gegenteil. Einige Beobachtungen:

Was sich verbessert hat:

  • Entstigmatisierung psychischer Belastungen (teilweise)
  • Rechtliche Rahmenbedingungen für Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz
  • Verfügbarkeit von Unterstützungsangeboten
  • Wissenschaftliches Verständnis der Stressmechanismen

Was sich verschlechtert hat:

  • Arbeitsverdichtung und Zeitdruck
  • Entgrenzung von Arbeit und Privatleben
  • Informationsflut und ständige Erreichbarkeit
  • Unsicherheit durch wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen

Fazit: Die individuelle Verantwortung und ihre Grenzen

Die SECO-Stressstudien liefern seit 25 Jahren wertvolle Daten zur Entwicklung von Arbeitsstress in der Schweiz. Sie zeigen, dass weder Appelle an die Eigenverantwortung noch vereinzelte betriebliche Massnahmen ausreichen, um die Dynamik umzukehren.

Gleichzeitig wäre es verfehlt, auf strukturelle Veränderungen zu warten, bevor man handelt. Die Neuroplastizität des Gehirns bedeutet, dass jeder Einzelne die Möglichkeit hat, aus chronischen Stressmustern auszusteigen, vorausgesetzt, er findet Zugang zu wirksamen Methoden und professioneller Unterstützung.

Die Forschung zeigt: Es gibt evidenzbasierte Wege aus der Stressfalle. Die Frage ist nicht, ob Veränderung möglich ist, sondern ob wir bereit sind, die nötigen Schritte zu gehen. Manchmal braucht es dabei Begleitung durch Menschen, die sich mit den tieferen Mechanismen von Stress auskennen und die wissen, wie man nachhaltige Stressfreiheit erreicht, statt nur Symptome zu managen.